Freiheit und Entscheidung (Artikel der EKD) “Kirche ist uncool”
“Ein zentrales Merkmal des Verhältnisses von Kirche und Jugend ist die Tatsache, dass die Freiheitsgrade von Jugendlichen, sich auf den Glauben und die Institution Kirche einzulassen, hoch sind und Jugendlichen damit eine Entscheidung abverlangt wird.
Diese Freiheit ist zum einen entwicklungsbedingt. In der Jugendphase kann sich ein selbstständiger Zugang zum Glauben, zur Religion und zur Kirche entwickeln. Die Phase der Jugend ist für die Ausbildung einer Haltung zu Religion und Kirche von besonderer Bedeutung; Jugendliche können sich mehr und mehr selbstständig mit ihrem Glauben, der Religion und der Zugehörigkeit zur Kirche auseinandersetzen. In dieser Lebensspanne gewinnen Fragen von Lebensgestaltung und Ethik an Bedeutung, und es werden eigene Antworten gesucht. Viele Erfahrungen der Jugendzeit seien sie positiv befreiend, aber auch negativ einengend sind für den weiteren Lebenslauf prägend. Jugendliche setzen sich mehr und mehr eigenständig mit diesen Fragen auseinander.
Die Eigenständigkeit ist aber auch durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingt. Die Lebenslagen von Jugendlichen haben sich in den letzten Jahren erkennbar verändert und neue Herausforderungen des Aufwachsens entstehen lassen. Jugendliche in Deutschland müssen heute weniger denn je um Freiräume für die Verwirklichung ihres eigenen Lebensentwurfes kämpfen und diesen in Abgrenzung zur vorhergehenden Generation entwickeln. Vielmehr müssen sie sich heute darum bemühen, in einer Multioptionsgesellschaft eine eigene Lebensplanung zu realisieren und sich einer komplexen und unübersichtlichen Gesellschaft unter den Bedingungen der Globalisierung selber zuzuordnen. Es ist schwer für sie, Formen der Teilhabe an Gesellschaft zu finden, trag fähige Gemeinschaftsformen zu identifizieren und zu gestalten. Lebenslaufentscheidungen bergen Risiken und provozieren Entscheidungen. Viele Jugendliche empfinden dieses als Entscheidungsüberlastung. Jugendliche werden heute als “pragmatische Generation” beschrieben, die durch die zunehmend auseinandergehende wirtschaftliche Schere zwischen Arm und Reich unter starkem ökonomischen Erfolgsdruck steht.
Jugendliche suchen nach Orientierung und Lebenssinn. Viele Jugendliche interessieren sich für moralische und ethische Fragen. Sie suchen nach überzeugenden Antworten, nach Orientierung und Lebenssinn. Sie interessieren sich für Religion bzw. Religionen. Sie suchen Räume, in denen sie sich mit ihren Fragen entfalten können. Sie engagieren sich in der Gesellschaft und möchten etwas für andere tun. Gleichzeitig sinkt das Wissen von Jugendlichen über Religion, und die religiöse Sprachfähigkeit nimmt ab. Immer weniger Jugendlichen gelingt es, religiöse Dimensionen sprachlich zu kommunizieren und religiöse Verweise oder Prägungen in kulturellen Ausdrucksformen zu entziffern.
Bei dieser Suche nach Orientierung und Engagement erscheinen die kirchlichen Angebote in vielen Fällen nicht attraktiv. Jugendliche interessieren sich häufig nicht für die kirchlichen Antworten und Angebote. Auch wenn sich mehr als 90% der evangelisch Getauften konfirmieren lassen, engagieren sich viele Jugendliche nach der Konfirmation nicht mehr im Bereich der Kirche. Obwohl ein erheblicher Teil der Jugendlichen am Ende der Konfirmandenzeit angibt, dass sie sich gerne an kirchlichen Aktivitäten beteiligen würden, finden viele kein passendes Angebot. Die Kirchenmitgliedschaft wird dann in dieser Altersgruppe nicht selten zu einer bloßen Konvention und Tradition. Auch zu den Inhalten des christlichen Glaubens besteht dann zunehmende Distanz: Hinsichtlich des Glaubens an Gott werden häufig Zweifel geäußert bzw. man begegnet bei Jugendlichen der Einstellung, dass man “an eine höhere Kraft” glaube, “aber nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt” (Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2003). Diese Form der Distanz zur Kirche unter scheidet sich von den Formen der Institutionenkritik von Jugendlichen der vorhergehen den Generationen. Die kirchenkritische Haltung von Jugendlichen war bis in die 80er Jahre aus der heutigen Perspektive eher emotional von Kirchennähe geprägt. Schließlich ging es vielfach darum, die Institution zu verändern, mit der man selbst groß geworden war. Vielen Jugendlichen heute ist die Institution Kirche von vornherein fremd geblieben und deshalb gleichgültig sie wollen sie nicht einmal mehr verändern. Hierin zeigt sich eine generelle Distanz zu Institutionen. Allerdings wird ein solcher Befund dadurch unübersichtlich, dass sich die Kirchenbindung von Jugendlichen in einzelnen Gegenden Deutschlands in der Ausprägung deutlich unterscheidet. Es gibt Regionen, in denen die deutliche Mehrheit der Jugendlichen der Kirche angehört, und andere, in denen sie damit eine Minderheit darstellen. Dies verändert die Problemsicht. Gleichwohl ist der allgemeine Trend einer zunehmenden Distanz zur verfassten Kirche nicht zu verkennen.”
Ralf Krieg